Der YouTube-Algorithmus hat mir ein Juwel in den Player gewürfelt. Die sehr talentierte schottische Komödiantin Eleanor Morton nimmt sich der Frage an, wie Influenza-Leugner im Jahr 1918 geklungen haben mögen.
Es ist manchmal ein wenig eklig, ein bisschen gemein und dabei unfassbar komisch:
Influenza-Leugner, for real?
Aber wie klang das im Jahr 1918 denn wirklich? Gab es damals Menschen, die nicht an die Pandemie geglaubt haben? Gab es Menschen, die es zu sehr auf die leichte Schulter genommen haben?
Nun. Es klang fast wie heute.
Am 12. Oktober, dem Tag, an dem sich die Grippe unter den betuchten Gästen des Clubs dos Diàrios (Verein der Zeitungen/Presseclub) verbreitete, schrieb das Satiremagazin „Careta“ (Grimasse) über die Befürchtung, die Regierung würde die Gefahr übertreiben, die vom „Mörder alter Menschen“ ausgehen würde um eine „Wissenschaftsdiktatur“ zu erreichten und die Bürgerrechte einzuschränken. Die Presse stellte den „Public Health“-Direktor Carlos Seidl als wankelmütigen Bürokraten dar und Politiker verwarfen sein Gerede über Mikroben, die sich über die Luft verbreiteten. Statt dessen beharrten sie darauf, dass es auch der Staub aus Dakar bis nach Rio schaffen würde. Die Epidemie wurde sogar „Seidl’s Übel“ genannt. Ende Oktober, als eine halbe Million Cariocas (Einwohner von Rio de Janeiro) — mehr als die Hälfte der Bevölkerung — erkrankt war, gab es immer noch jene unter Rios Meinungsmachern, die daran zweifelten, dass es sich bei der Krankheit um die Grippe handelte.
The Pale Rider — Laura Spinney — Loc: 744
Wir könnten uns nun eigentlich ein Pandemie-Bingo bauen und könnten die folgenden Kästchen schon mal abhaken: „man will uns nur einsperren“, „man will uns unsere Rechte nehmen (für immer!!)“, „Wissenschaftsdiktatur“, „die Experten übertreiben“, „beleidigende Namen für Wissenschaftler“, „harte Fakten ignorieren“ und den Unglauben, dass sich Viren über die Atemluft verbreiten können wir direkt mit dem Unglauben über die Verbreitung von SARS-CoV-2 über Aerosole oder die Wirksamkeit von Masken in Einklang bringen.
Recherchefundstück
Ich wollte eigentlich nur kurz nachsehen, was es mit dem Club dos Diàrios auf sich hatte, der Ort eines der ersten Multispreadingevents von Rio de Janeiro während der Spanischen Grippe war.
Beim Namen hatte ich auf einen Presseclub oder etwas ähnliches getippt, aber es scheint sich dabei um einen Automobilclub mit illustrem Publikum gehandelt zu haben.
On October 12, a Saturday, a ball was held at the Club dos Diàrios, a favorite haunt of Rio’s coffee barons and other powerbrokers.
Laura Spinney, The Flu Epidemic That Even Killed Love, The Daily Beast
Am Oktober den 12, einem Samstag, fand ein Ball im Club dos Diàrios statt, dem Stammlokal von Rios Kaffeebaronen und anderen Mitgliedern der Machtelite.
Laura Spinney, The Flu Epidemic That Even Killed Love, The Daily Beast
Der US Präsident TheodoreRoosevelt war einmal dort zu Gast, und im Verlauf der Zeit scheint der Club auch eine Rolle in der brasilianischen Militärdiktatur gespielt zu haben. Vielleicht wird der heutige Zustand des Gebäudes dann der dunklen Vergangenheit, sowohl als Multispreadingeventort während der Spanischen Grippe als auch als Treffpunkt von Putschisten, gerecht.
Das Gebäude des Clube Dos Diarios in Rio, später Automovel Club Do Brasil, auf Google Streetview.
BAIN NEWS SERVICE, 1913. Rio Janeiro - Roosevelt at Club Dos Diarios with Dr. L. Muller. Library of Congress, Washington, D.C. 20540 USA [online]. 1913. [Zugriff am: 25 Juni 2022]. Verfügbar unter: https://www.loc.gov/resource/ggbain.15356/
SPINNEY, Laura, 2018. Pale Rider: The Spanish Flu of 1918 and How it Changed the World [online]. London: Vintage. ISBN 978-1-78470-240-3. Verfügbar unter: https://amzn.to/2X3icA6
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Mela lebt, zusammen mit ihrem Mann, in Karlsruhe und schreibt über allerlei und unter anderem gerne über Geschichte und Geschichten.
Sie besitzt einen BA (hons) Humanities with Creative Writing and History von der Open University in Milton Keynes, UK.
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