Ein historisches Foto einer Krankenschwester, die einen lose sitzenden Mundschutz trägt und in die Kamera blickt. Neben dem Foto steht der Text: "To prevent influenza: Don't take any persons breath. Keep mouth and teeth clean. Avoid those that cough or sneeze. Don't visit poorly ventilated places. Keep warm, get fresh air und sunshine. Don't use common drinking cups, towels, etc. Cover your mouth when you cough and sneeze. Avoid Worry, Fear and Fatique. Stay at home if you have a cold. Walk to your work or office. In sick rooms, wear a gauze mask like in illustration."

Wie war das mit der Spanischen Grippe?

Notorisch seit Beginn dieser Pandemie ist der Vergleich zwischen SARS-CoV-2 und der Grippe. Früh wurde versucht, die Gefährlichkeit des Virus — und unter Gefährlichkeit wurde im Allgemeinen nur die Sterblichkeitsrate verstanden — in Bezug zur Grippe zu setzen. Gerne mit der Behauptung, die (zum damaligen Zeitpunkt) 2000 Toten seien doch nichts, im Gegensatz zu den 20.000 Toten der Grippesaison 2017/2018 .

Tatsächlich war die Grippesaison 2017/2018 ungewöhnlich stark und betraf auch ungewöhnlich viele junge Menschen. Was die Argumentation von Personen wie Wolfgang Wodarg, aber so problematisch machte, ist zum einen, ein pandemisches und neues Virus mit einer besonders unangenehmen Variante eines an sich endemischen Virus zu vergleichen, für das in der Bevölkerung eine Grundimmunität besteht und gegen das es bereits lange erprobte Impfstoffe gibt. Während bei SARS-CoV-2 eine immunologisch naive Bevölkerung auf ein hochansteckendes Virus traf. Bedeutet: Wir besitzen keine Grundimmunität oder ob es möglicherweise eine Grundimmunität geben könnte, war im Frühjahr 2020 noch völlig unklar. Während wir bei der Schweinegrippe von 2009 beispielsweise Glück hatten .

Ebenso problematisch war es, die Zahl der laborbestätigten Toten am Beginn einer Pandemie mit einer Übersterblichkeit zu vergleichen, die erst zwei Jahre nachträglich — also nachdem sich der Staub gelegt hatte — berechnet wurde. Die Zahl der laborbestätigten Influenza-Toten belief sich über die Saison 2017/2018 auf unter 1700 Fälle .

SARS-CoV-2 oder Influenza?

Inzwischen hat Deutschland die Grenze von 90.000 an Covid-19 verstorbenen Personen überschritten und dennoch bricht die Kette an Influenza-Hot-Takes nicht ab.

Viele Leugner vermuten immer noch ein fies umgelabeltes Influenzavirus hinter den Maßnahmen — weil nicht sein kann, was nicht sein darf und sich die Wissenschaftler, die sich im Labor tagtäglich mit Viren umgeben, nach dieser Auffassung Dummies sind und sich deswegen einfach irren MÜSSEN.

Aber auch die „Covid-19 ist nur eine Grippe“-Sager haben prominente Vertreter. Und zwar bis hoch in die höchsten Ebenen der Wissenschaft, wo ein an sich respektierter Forscher wie John Ioannidis Covid-19 recht früh in der Pandemie als „möglicherweise in der gleichen Größenordnung wie die Influenza“ bezeichnete . Der endemischen Influenza, nicht der pandemischen Influenza, wohlgemerkt.

Das Ioannidis eine auffällige Nähe zum rechts-libertären Thinktank hinter der Great Barrington Declaration pflegt und er die Finanzierung seiner Seroprävalenz-Studie durch eine Fluggesellschaft nicht offenlegte, mag oder mag nichts damit zu tun haben .

Virus-Quartett-Spielchen

Ein Grippe-Hot-Take kam von Klaus Stöhr. Bei Herrn Stöhr handelt es sich um einen Epidemiologen und Virologen mit durchaus beeindruckender Vergangenheit. Unter anderem hat er jahrelang für die WHO gearbeitet und auch zur Influenza geforscht.

Klaus Stöhr auf Twitter

In der aktuellen Pandemie gehört er zu einer Gruppe wichtiger Experten, die man leider nicht in die wichtigen Gremien eingeladen hat, die aber der Ansicht sind, sie hätten in die wichtigen Gremien eingeladen werden müssen. Weil sie mehr Überblick haben als alle anderen und vor allem als die auf Coronaviren spezialisierten Virologen.

Und wie viele Personen, die sich seit Beginn dieser Pandemie nicht für ausreichend wertgeschätzt fühlen, bemüht sich Herr Stöhr stets zu vermitteln, dass die anderen keine Ahnung haben und er alles anders machen würde.

Eine lässige Einstellung, die man sich dann leisten kann, wenn man nicht in den wichtigen Gremien sitzt. Wenn man nicht die Verantwortung trägt, Public-Health-Konzepte für ein ganzes Land zu entwickeln, die dann auch tatsächlich in die Nähe der Umsetzung kommen.

Auf Twitter erklärte er kürzlich: Die Spanische Grippe war viel schlimmer gewesen als die aktuelle Pandemie .

Nein. Echt?

Die Spanische Grippe wird oft als die erste echte Pandemie und die schlimmste Pandemie der Neuzeit bezeichnet; ein direkter Vergleich ist aus vielen Gründen nicht sinnvoll. Nicht nur, weil sich die Spanische Grippe während des Ersten Weltkriegs ausbreitete. Die gesamte weltpolitische Situation war eine völlig andere, und die damaligen Bedingungen können nicht seriös mit den aktuellen Umständen verglichen werden.

Weder war bekannt, welches Pathogen die Erkrankung verursachte — man ging landläufig noch von einem Bakterium (Pfeiffers Influenzabazillus) aus — noch hatte man die moderne Labordiagnostik zur Verfügung. Die Medizin befand sich, das Virus betreffend, im Blindflug.

Auch ist es kaum möglich zu sagen, wie sich die Ausbreitung und Letalität von SARS-CoV-2 entwickelt hätte, wären die sonstigen Bedingungen heute ein bisschen mehr wie im Jahr 1918/1919. Ohne Intensivmedizin, dafür mit weniger Flugverkehr. Ohne rasche Impfstoffentwicklung, dafür mit viel autoritäreren Regierungen und Pressezensur. Und mit Millionen Soldaten in beengten, unsauberen und feuchten Verhältnissen, mit Truppenbewegungen und Revolutionen.

Die Spanische Grippe – Ein Steckbrief

Auch wenn die Spanische Grippe ihren Namen nicht mehr loswerden wird; Entstanden ist sie nicht in Spanien, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach in den USA, von wo sie mit Truppentransporten nach Europa exportiert wurde.

Wegen des 1. Weltkriegs wurden Berichte über die Seuche in den Medien vieler Länder unterdrückt. Die Presse der neutralen Nation Spanien war davon nicht betroffen und der spanische König Alfonso XIII erkrankte im Verlauf der ersten Welle . Das brachte die Pandemie zu Unrecht mit Spanien in Verbindung.

Heute wird vermutet, dass sich das Virus in den USA entwickelte, wahrscheinlich in Kansas. Dort tauchten die ersten Fälle Anfang des Jahres 1918 auf . Im März 1918 wurden die ersten Fälle in einem Ausbildungslager des US-Militärs vermeldet, von wo aus sie mit Truppentransporten nach Europa exportiert wurde. Im Mai hatte die Influenza sich dann bereits so weit in Europa verbreitet, dass sich auch der spanische König gegen Ende des Monats infizierte.

Insgesamt breitet sich das Virus H1N1 vom Influenza Subtyp A in drei Wellen aus. Davon war die zweite Welle mit Abstand die stärkste und tödlichste. Zeitgenossen beschrieben die zweite Welle im Vergleich zur ersten mit den Worten: „Als wäre es ein neues Virus.“

Die drei Influenzawellen der Spanischen Grippe.

Von Auge=mit - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=101831820
Der Verlauf der Spanischen Grippe in Großbritanien anhand der Todesfälle. Die erste Welle der Pandemie startete auf der Insel etwas später, als auf dem Kontinent.

Von Auge=mit – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=101831820

Wie viele Menschen im Endeffekt aber tatsächlich an der Spanischen Grippe gestorben sind, wird unklar bleiben. Abgesehen vom Ersten Weltkrieg wüteten in China und Russland Bürgerkriege. Aus vielen Teilen der Welt haben wir nur Schätzdaten. Angenommen wird ein Minimum von 10 Millionen Toten und ein wahrscheinliches Maximum von 50 Millionen. Allerdings habe ich auch schon Vermutungen gelesen, die die Gesamtzahl eher in den Bereich von 100 Millionen einordnen wollen.

Nimmt man die unterschiedlichen Ansichten zur Todeszahl zusammen, pendeln sich die Zahlen darauf ein, dass in etwa 2% der Weltbevölkerung an der Spanischen Grippe starben.

Eine aktuelle Schätzung der weltweiten Übersterblichkeit verortet die Zahl der Toten auf bislang zwischen knapp 10 Millionen bis rund 18 Millionen Tote durch Covid-19 . Das klingt erst einmal nahe an den Zahlen der Spanischen Grippe, aber nur, wenn wenn man das Bevölkerungswachstum, von geschätzten 2 Milliarden Menschen im Jahr 1918 auf 7,8 Milliarden Menschen im Jahr 2021, ignoriert.

Während wir auch bei Covid-19 sehen, dass unterschiedliche Regionen oder Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark betroffen sind, war die ungleiche Last bei der Spanischen Grippe noch deutlicher zu erkennen. Während Amerikanisch-Samoa dank einer Seeblockade von der Pandemie verschont wurde, starben auf Westsamoa um die 20% der Bevölkerung. Am härtesten traf es einige Inuit-Dörfer Alaskas, in denen die Hälfte der Bevölkerung den Kontakt mit dem Influenzavirus nicht überlebte .

„Wie ein völlig neues Virus“ – Die 2. Welle

Während sich alle einig darüber sind, dass die 2. Welle der Spanischen Grippe weitaus tödlicher war und auch ein anderes Erkrankungsprofil zeigte, als die erste Welle oder normale, endemische Grippewellen, besteht keine völlige Einigkeit, über die genaue Ursache.

Abbildung 2. "U-" und "W-" Kurven der Todesrate von Grippe und Lungenentzündung über dem Todesalter, auf je 100.000 Personen bezogen
„U-“ und „W-“ Kurven der Todesrate von Grippe und Lungenentzündung über dem Todesalter, auf je 100.000 Personen bezogen
Quelle: https://www.cdc.gov/ncidod/EID/vol12no01/05-0979.htm

Vermutet wird eine Mutation, die für die Grippe zwar typisch ist, aber in diesem Fall nicht nur zu einem infektiöseren, sondern auch viel aggressiveren Virus führte.

Ein Alters-Diagramm der Opfer einer typischen Grippesaison sieht u-förmig aus. Besonders betroffen sind Säuglinge und Kleinstkinder, sowie alte Menschen. Das Alters-Diagramm der zweiten Welle war eher w-förmig. Während ältere Menschen diesmal eher geschützt waren, als in endemischen Grippewellen, gab es hohe Todeszahlen unter Menschen zwischen 15-35 Jahren .

Eine Theorie, die sich hält und die mit dem wahrscheinlichen Ursprung der zweiten Welle — Nordfrankreich — in Einklang ist, ist, dass das Virus, durch die Gemengelage von Truppenansammlungen, großen Vogelschwärmen und unter anderem Senfgas, in eine viel aggressivere Form mutierte .

Eine einmalige Situation, die die Spanische Grippe von allen anderen Pandemien abhebt.

What caused the virus to mutate that summer is not clear, but as we’ve seen, flu doesn’t need much prompting to change, and conditions were arguably conducive to such an event. Large parts of the world were in the grip of famine, and there is some evidence that nutritional deficiencies in the host can drive genetic changes in the flu virus, causing it to become more virulent (while simultaneously impairing the host’s immune response). If we accept that the second wave emerged on or close to the Western Front, then that front was awash with chemicals, some of which, mustard gas in particular, were mutagenic – meaning they were capable of inducing genetic changes in living organisms, including viruses.

Laura Spinney, Pale Rider, Seite 173.

„Was das Virus in diesem Sommer mutieren ließ, ist nicht klar. Aber, wie wir gesehen haben, benötigt die Grippe nicht viel, um eine Veränderung einzuleiten und die Umstände waren so, dass sie einen derartigen Vorgang beförderten. In vielen Teilen der Welt herrschte Hunger und es gibt einige Hinweise, dass Nährstoffmangel im Wirtskörper eine genetische Veränderung im Grippevirus auslösen kann, in deren Folge es ansteckender wird (während es gleichzeitig die Immunantwort des Infizierten behindert).Wenn wir die Theorie akzeptieren, dass die zweite Welle von der Westfront oder in ihrer Nähe ausging, dann war diese Front mit Chemikalien überschwemmt, von denen einige, vor allem Senfgas, Mutagene sind. Das bedeutet, sie sind in der Lage, genetische Veränderungen in lebenden Organismen hervorzurufen. Viren eingeschlossen.“


Laura Spinney zitiert zudem den Evolutionsbiologen Paul Ewald, der davon ausgeht, dass die Situation an der Front das Virus nicht nur infektiöser, sondern auch tödlicher gemacht hat, weil der Evolutionsdruck — den Wirtskörper nicht zu töten um sich maximal verbreiten zu können — in den überfüllten Schützengräben des 1. Weltkriegs nicht existierte .

Die Situation in Deutschland

Historic Chart Showing Mortality Rates in America and Europe during 1918 and 1919 (Photo: Image “Reeve 3143,” National Museum of Health and Medicine, Armed Forces Institute of Pathology, Washington, D.C.)
Historic Chart Showing Mortality Rates in America and Europe during 1918 and 1919

(Photo: Image “Reeve 3143,” National Museum of Health and Medicine, Armed Forces Institute of Pathology, Washington, D.C.)
– https://doi.org/10.1371/journal.pmed.0020359

Für Deutschland erschien dieses Jahr eine neue Untersuchung, die die Zahl der Toten auf deutschem Boden auf rund 260.000 festlegt . (Bei einer Einwohnerzahl von rund 60 Millionen.)

Das klingt, verglichen mit den hohen Todeszahlen des 1. Weltkriegs (2 Millionen gefallene deutsche Soldaten ), erstaunlich wenig. Tatsächlich scheinen das Deutsche Reich und England die Pandemie besser überstanden zu haben, als Nachbarländer . Und das, obwohl der Waffenstillstand und in der Folge Truppenbewegungen, als auch die deutsche Oktoberrevolution mitten in die tödliche zweiten Welle fielen.

Im Kontrast: Die Zahl der in Deutschland an Covid-19 Verstorbenen beläuft sich derzeit (27.09.2021) auf 93.398 Personen (bei einer Einwohnerzahl von 83 Millionen).

„Nur eine Grippe“ – Die Symptome der Spanischen Grippe

Der Krankheitsverlauf der Spanischen Grippe wird als schnell einsetzend und heftig beschrieben. Die Bandbreite der beschriebenen Symptome ist ebenso ungewöhnlich wie dramatisch:

The whole constitution was affected. People said the Spanish flu had a smell, as of musty straw. ‘I never smelt anything like it before or since,’ recalled one nurse. ‘It was awful, because there was poison in this virus.’ Teeth fell out. Hair fell out. Some did not even show any signs before simply collapsing where they stood. Delirium was common.

Laura Spinney, Pale Rider, Seite 46.

„Die gesamte Konstitution war betroffen. Die Leute sagten, die Spanische Gruppe hatte einen Geruch wie der von muffigem Stroh. „Ich habe so etwas noch nie vorher und seither auch nie wieder gerochen,“ erinnert sich eine Krankenschwester. „Es war furchtbar, denn da war Gift in diesem Virus.“ Zähne fielen aus. Das Haar fiel aus. Manche zeigten nicht einmal Symptome. Sie brachen einfach dort zusammen, wo sie standen. Delirium war häufig.“


Das Spektrum der Symptome reichte von Erkältungserscheinungen wie Husten und Schnupfen über hohes Fieber, Durchfall, Störungen des Herz-Kreislauf Systems bis hin zu tödlichen Entzündungen der Lunge „wie nach einem Gelbkreuzangriff.“ Der Oberstabsarzt Friedrich Münter unterscheidet sechs Formen der Grippe: einfach-toxisch, katarrhalisch, nervös, pulmonal, rheumatisch und gastrointestinal, wobei Kombinationen möglich waren.

Marc Hieronimus, Krankheit und Tod 1918, Seite 10.

Mitunter griff die Entzündung auf den Sehnerv über und führte bei den Betroffenen zu einem teilweisen Verlust des Farbensehens. Die Farben wirkten ausgewaschen und matt, was sich auch auf die psychische Verfassung der Patienten auswirkte .

Die Häufigkeit von Symptomen der Spanischen Grippe, aufgeschlüsselt nach US-Armeebasen.
Die Häufigkeit von Symptomen der Spanischen Grippe, aufgeschlüsselt nach US-Armeebasen. – 29 August 1919

Symptomatology of the Influenza Epidemic
(Reeve 003216), National Museum of Health and Medicine

Das zusätzlich zu den teils schweren psychischen Symptomen, die die Grippe selbst auslöste:

„Keine Seuche macht so viele akute und chronische Psychosen wie die Influenza, wenn auch mehr in absoluter als relativer Häufigkeit. [. . .] Im einzelnen sieht man motorische Unruhe, die Kranken springen aus dem Bett, man erlebt Zerfahrenheit, Amentia, halluzinatorische Verwirrtheit. Heitere Verstimmung ist häufiger als Depression. Vorkommen Manie, Melancholie, welch letztere zu Selbstmord führen kann ,katatone und hebephrene Symptome. Eigenartige Zustände von Schlafsucht werden der Influenza zu Last gelegt.“

Oberstabsarzt Friedrich Münter in Marc Hieronimus, Krankheit und Tod 1918, Seite 10.

Das weltberühmte Bild „Der Schrei“ von Edvard Munch entstand möglicherweise unter dem Eindruck der psychischen Probleme, an denen der Maler nach seiner Grippeerkrankung litt.

‘One evening I was walking along a path, the city was on one side and the fjord below,’ he wrote later. ‘I felt tired and ill. I stopped and looked out over the fjord – the sun was setting, and the clouds turning blood red. I sensed a scream passing through nature; it seemed to me that I heard the scream.’

Edvard Munch in Laura Spinney, Pale Rider, Seite 27.

„An einem Abend wanderte ich einen Weg entlang. Die Stadt befand sich auf der einen Seite und auf der anderen Seite konnte ich in den Fjord herunterblicken“, schrieb er später. „Ich fühlte mich müde und krank. Ich hielt an, und sah über den Fjord. Die Sonne ging unter und die Wolken wirkten blutrot. Ich erahnte den Schrei, der sich seinen Weg durch die Natur bahnte und es schien für mich, dass ich diesen Schrei hörte.“


Zu den dramatischsten Symptomen der Spanischen Grippe gehörte die Zyanose. Es entwickelte sich ein blutiges Lungenödem und die Körper der Erkrankten konnten in der Folge nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden. Die Körper der Erkrankten färbten sich blau. Sobald die Blaufärbung der Haut auftrat, war sie fast immer ein Todesurteil.

The most ominous symptom was the heliotrope cyanosis. It developed in less than half of the pulmonary cases, but once it became definite the prognosis was so bad that out of every 100 „blue“ cases about 95 died.

„History of the Great War. Based on official documents. Medical Services. Diseases of the War. Volume 1.“ in Marc Hieronimus, Krankheit und Tod 1918, Seite 10.

„Das unheilvollste Symptom war die heliotrope Zyanose. Sie entwickelte sich bei weniger als der Hälfte der Fälle mit Lungenentzündungen, aber sobald sie sich manifestierte, war die Prognose so schlecht, dass aus 100 ‚blauen‘ Fällen rund 95 starben.“


Die Patienten mit blau verfärbten Lippen, Wangen und/oder Ohren waren meist bei vollem Bewußtsein und mußten doch nach einigen Stunden sterben.

Marc Hieronimus, Krankheit und Tod 1918, Seite 10.

Welche Erkenntnisse können wir ziehen?

Auch wenn die Umstände der beiden Pandemie unterschiedlicher kaum sein könnte, aufmerksamen Lesern dürften bei der Beschreibung der Symptome — oder eher der Beschreibung der unglaublichen Bandbreite der Symptome — Parallelen zu Covid-19 aufgefallen sein. Und nein, nicht, weil Covid-19 nur ‚eine Grippe‘ ist.

Hier wird deutlich, was die Gefahr eines neuen Virus, für das in der Bevölkerung keine Grundimmunität besteht, ausmacht. Die Immunsysteme Infizierter reagieren nicht zielgerichtet, sondern konfus und teils überschießend. Auch innerhalb einer Familie, also bei ähnlicher genetischer Ausstattung, sieht die Krankheit und der Verlauf bei den Patienten oft völlig unterschiedlich aus .

Gegen das Vergessen

Weder war die Spanische Grippe ’nur‘ eine Grippe, noch ist sie virologisch oder den äußeren Umständen nach, mit der SARS-CoV-2-Pandemie zu vergleichen. Betrachtet man sich die beiden Pandemien aber nebeneinander, beschleicht einen das Gefühl, dass wir es eigentlich hätten besser machen können. Besser machen müssen.

Denn unsere Mittel, unser Verständnis von Infektionskrankheiten und unsere Möglichkeiten unterscheiden sich signifikant von der Zeit um 1918.

Der Historiker Marc Hieronimus beschäftigt sich in seinem Buch auch mit dem Thema, warum Pandemien immer wieder in Vergessenheit geraten und wir in der Folge daran scheitern, Lehren daraus zu ziehen .

Deswegen, aber nicht nur deswegen ist dieser Artikel der Auftakt zu einer kleinen Serie von Artikeln, mit denen ich euch auf eine Reise durch die Archive mitnehmen und erlebbar machen möchte, wie Menschen damals diese größte Pandemie des 20. Jahrhunderts erlebten.

Quellen

Alle Amazon-Links sind Affiliate-Links.

Hat Dir der Beitrag gefallen?

Die Beiträge in diesem Blog basieren auf umfangreicher und zeitintensiver Recherche. Die Zeit geht mir von anderen Aufgaben und bezahlten Aufträgen ab. Daher akzeptiere bitte Cookies der VG Wort, damit ich wenigstens ein kleines Einkommen erzielen kann und erwäge mich auf andere Arten zu unterstützen. Danke!

Liked it? Take a second to support Mela Eckenfels on Patreon!
Become a patron at Patreon!


Mela lebt, zusammen mit ihrem Mann, in Karlsruhe und schreibt über allerlei und unter anderem gerne über Geschichte und Geschichten. Sie besitzt einen BA (hons) Humanities with Creative Writing and History von der Open University in Milton Keynes, UK.


'Wie war das mit der Spanischen Grippe?' have 3 comments

  1. 28. September 2021 @ 08:00 Arne Babenhauserheide

    Danke für Deine tolle Aufarbeitung! Deine Artikel sind Gold wert!

    (konsequenterweise bin ich gerade deinem Patreon beigetreten)

    Reply

  2. 10. November 2021 @ 18:32 Was wäre, wenn das Coronavirus im Mittelalter aufgetreten wäre? - Quora-Antwort — Früher war alles besser, oder?

    […] wussten wir zum Beispiel nicht mal bei der Spanischen Grippe. Damals war die Keimtheorie schon etabliert, aber man kannte Viren noch nicht. Man konnte nur auf […]

    Reply

  3. 7. September 2022 @ 17:55 Was ist für einen jungen, gesunden Menschen sinnvoller: Gezielter Aufbau des gesamten Immunsystems oder Grippeschutzimpfung (“normale” Grippe, nicht Corona)? — Quora-Antwort | Feder & Herd

    […] umzufahren, landet es 500 Meter weiter mit einem großen Crash an der Betonwand.Das ist bei der Spanischen Grippe passiert, als die Todesrate unter jungen, gesunden Menschen zwischen 15 und 35 Jahren besonders […]

    Reply


Would you like to share your thoughts?

Your email address will not be published.

Creative Commons License
Except where otherwise noted, Früher war alles besser, oder? by Mela Eckenfels is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International License.