A medieval street scene with a town crier and a two-wheeled cart making the rounds and collecting the bodies of plague victims; a few people have gathered around a small fire for warmth.

Was wäre, wenn das Coronavirus im Mittelalter aufgetreten wäre? – Quora-Antwort

Meine Antwort auf die Quora-Frage „Was wäre, wenn das Coronavirus im Mittelalter aufgetreten wäre?“ unter der sich bis zu diesem Zeitpunkt fast nur erschreckend ignorante bis hin zu indirekt zu Gewalt gegen die Regierung aufrufende Antworten zu finden waren.

Die Frage war am 20. April 2020 gestellt worden, also noch unter dem Eindruck des Beginns der Pandemie und des ersten Lockdowns.

Die Anworten, die mehrheitlich auch aus dieser Zeit stammen, behaupten meist, das Virus SARS-CoV-2 bagatellisierend, man hätte die Pandemie im Mittelalter gar nicht bemerkt und es wäre den Leuten auch egal gewesen.

Das ist, allem, was wir an Primärquellen aus den Pestjahren haben, nicht zutreffend.

Meine Antwort fiel etwas anders und etwas – sehr viel – länger aus. Leider sind seitdem nochmal zwei neue Antworten hinzugekommen, die ebenso kenntnisfrei wie meinungsstark ins gleiche Horn blasen, wie die Antworten von 2020.

Ich habe meine Überlegungen an einem Stück mit nur sehr wenig Recherche niedergeschrieben, also die meisten Sachen aus der Erinnerung gezogen. Fehler und Unklarheiten sind daher wahrscheinlich.

Gerne hätte ich auch noch ein paar Zitate aus Primärquellen gebracht, die uns zeigen, wie niederdrückend die ständig wiederkehrenden Epidemien für die Bevölkerung des Spätmittelalters waren, aber der Beitrag war ohnehin schon zu lange und ich hatte auch so schon zu viel Zeit hineingesteckt. Dafür wird sich eine andere Gelegenheit finden.

Ich habe den Text aus Quora nicht identisch übernommen, sondern kleine Änderungen vorgenommen, aber ihn nicht umfassend überarbeitet. Ein paar Quellen habe ich nachträglich ergänzt, aber aus Zeitgründen gibt es keine vollständige Liste relevanter Quellen. Über Hinweise auf Fehler oder Aspekte, die ich nicht bedacht habe, freue ich mich.


Was wäre, wenn das Coronavirus im Mittelalter aufgetreten wäre?

Zuerst, ich denke nicht, dass es überhaupt möglich ist die Frage zu beantworten. Ich möchte aber versuchen, mich ihr anzunähern,

Dazu möchte ich die Eigenschaften des Virus beziehungsweise den Ursprungsort betrachten.

Hätten andere Coronaviren im Mittelalter eine Pandemie auslösen können?

Bis in die 2000er Jahre hinein war keine weltweite Pandemie durch ein Coronavirus bekannt. Dann kam das erste uns bekannte SARS-Coronavirus, SARS-1. SARS-1 konnte verhältnismässig schnell eingedämmt werden. 1. verbreitete sich das Virus nur durch symptomatische Infizierte. 2. sitzt das Virus hauptsächlich in der Lunge, so dass eine Übertragung (meist) nur bei näherem Kontakt stattfand und 3. die Erkrankten wurden auch schnell zu krank um noch herumzulaufen.

SARS-1 hätte sich damals wahrscheinlich eher nicht zur Pandemie entwickeln können. Dass es sich überhaupt über den asiatischen Raum hinaus verbreitet hat – bzw. im asiatischen Raum verbreiten konnte, lag an Flugverkehr. Und das ist auch gut so, denn die Sterblichkeitsrate bei SARS-1 betrug 10%.

Dennoch hatte auch SARS-1 noch ein paar Überraschungen im Ärmel. Man sehe sich nur einige Fälle von Infektion ohne Kontakt in einem Hotel an. Hier war möglicherweise Reste von Erbrochenem eines Infizierten in einem Teppich, und die Freisetzung von Erregern an die Luft in der Folge, der Übertragungsweg.

Seit 2012 kannten wir einen zweiten gefährlichen Corona-Erreger: MERS.

Hier starben um die 40% der Infizierten. Allerdings scheint MERS zwischen Menschen nicht sehr ansteckend zu sein. Unter den Infizierten waren vor allem Menschen, die direkt mit Dromedaren arbeiten und deren direkte Angehörige. Hoffen wir, dass es dabei bleibt. Auch MERS hätte sich im Mittelalter kaum zu einer Pandemie entwickeln können.

Wie MERS sind auch SARS-1 und SARS-CoV-2 zoonotische Viren.


Zoonosen

Kurzer Einschub: Humane Viren, also auf Menschen spezialisierte Viren, sind für uns fast immer ungefährlich.

Gefährlich für uns sind so gut wie immer nur die zoonotischen Viren, also Viren, die aus dem Tierreich stammen. Wir sind nicht an sie angepasst und sie nicht an uns. Aber wir verbreiten sie doch so schön!

Ergänzung: In den Amerikas gab es bis zur Entdeckung und Kolonisation keine Zoonosen. Aber das ist für die Diskussion dieser Frage unwichtig.


MERS und SARS-Coronaviren stammen aus Fledermäusen. Fledermäuse mit SARS-artigen Coronaviren wurden sowohl in Asien als auch in Afrika gefunden. MERS kommt vor allem im mittelasiatischen Raum vor, die Zwischenwirte sind Dromedare.

SARS-CoV-2 kam sehr wahrscheinlich über einen Zwischenwirt, also ein Tier, das in der Lage ist, sich mit dem Virus zu infizieren, das aber keine Zeichen einer Erkrankung zeigt, auf einen Tiermarkt und sprang von dort auf den Menschen über.

Was kann SARS-CoV-2?

Zu den hervorstechenden Eigenschaften, die SARS-CoV-2 zu einem Problem für uns gemacht haben, zählen:

  1. ähnlich wie zum Beispiel bei den Masern oder WIndpocken sind Infizierte bereits einige Tage vor den ersten Krankheitssymptomen infektiös
  2. es gibt aber auch asymptomatische Infektiosität bei Menschen, die nie Krankheitssymptome zeigen und daher ihre Aktivitäten auch nicht einschränken oder auch: nicht alle erkranken überhaupt
  3. das Virus ist über Aerosole, Tröpfchen- und Schmierinfektionen übertragbar. Die Übertragung über Aerosole spielt dabei die größte Rolle
  4. bereits eine geringe Virenlast, bzw. kurze Exposition ist für eine Infektion ausreichend
  5. das Virus ist moderat mutationsfreudig (mutationsfreudig wie HIV wäre eher so der GAU, aber immer noch mutationsfreudig genug, um uns Delta beschert zu haben. Also ein Problem.)
  6. bevor mit den Impfungen begonnen wurden, mussten auf ca. 100 symptomatisch infizierte und getestete Menschen 20 Personen im Krankenhaus behandelt werden. Davon jeweils 4–5 auf der Intensivstation. Von diesen 4–5 Personen verließ rund die Hälfte das Krankenhaus nicht lebend.
  7. schwer erkrankte Menschen müssen teils beatmet werden und brauchen moderne Medikamente
    • SARS-CoV-2 kann einen Zytokinsturm auslösen, bei dem sich der Körper beginnt selbst anzugreifen.
    • SARS-CoV-2 kann eine Sepsis auslösen.
    • SARS-CoV-2 mag den ACE2-Rezeptor und kann jedes Organ befallen, dass diese Rezeptoren besitzt. U.a. Herz, Lunge, Bauchspeicheldrüse, Nieren, Gehirn, Gefäße
    • Zu Folgen von Covid-19-Erkrankungen gehören daher auch Diabetes Typ 1 und 2, Herzschäden/Herzversagen, Nierenschäden und Nierenversagen, Unfruchtbarkeit, Lungenschäden und Lungenversagen, Gedächtnisprobleme und kognitive Leistungsprobleme und Gefäßschäden.

Lasst uns Punkt 7 doch mal im Gedächtnis behalten.

Damals und Heute

Zu den Unterschieden zwischen damals und heute:

  1. es gibt Flugverkehr
    • Sogar normale Menschen können sich einen Flug auf andere Kontinente leisten, nicht nur Händler, Krieger oder der Adel.
  2. Religion, Glaube und die Kirche spielte damals eine viel größere Rolle als heute.
  3. in weiten Teilen der Welt herrrscht heute Frieden.
  4. in weiten Teilen der Welt herrscht heute kein Mangel. Im Mittelalter gab es eine Phase der Abkühlung, die Mißernten und Hungersnöte zur Folge hatte.
  5. weite Teile der Welt besitzen stabile, zentrale und handlungsfähige demokratisch gewählte Regierungen.
  6. Menschen lebten im Mittelalter enger zusammen (innerhalb der Dörfer, Städte und Häusern)
  7. es gab im Mittelalter generell weniger Menschen und die lebten weiter auseinander (geographisch verteilt)
  8. der Gesundheitsstatus eines mittelalterlichen Menschen war ein komplett anderer, was wir heute als Normalzustand ‚gesund‘ kennen, war damals nicht die Regel
  9. es gibt die moderne Medizin. Wir können Menschen beatmen, haben gut wirkende Medikamente, mit denen wir zwar nicht Covid-19 direkt bekämpfen können, aber versuchen können die unangenehmeren Auswirkungen von Covid-19 unter Kontrolle zu halten.
    • es gibt Transplantationsmedizin, mit denen durch Covid-19 zerstörte Organe ersetzt werden können.
    • Wer im Mittelalter gestorben wäre, wäre vermutlich schnell (innerhalb von 1–2 Wochen nach den ersten Symptomen) gestorben, weil es keine Mittel und Maßnahmen gab, um schwer Erkrankte wirksam zu behandeln oder am Leben zu erhalten.
    • Wessen Organe in der Folge der Erkrankung Schaden genommen hätten, hätte es vielleicht noch ein bisschen länger gemacht. Aber je nach Organ und Schaden nicht sehr viel länger. Z.B. wäre Diabetes ein Todesurteil gewesen, hätte aber auch etwas länger gedauert.
  10. wir haben Medien, mit denen wir Wissen schnell verbreiten können, wie man das Virus bekämpft & sich verhält, aber auch Gerüchte.
  11. und nun das Wichtigste: Wir wissen, womit wir es zu tun haben.

Ich möchte das nochmal wiederholen, denn dieser Punkt ist enorm wichtig: WIR WISSEN, WOMIT WIR ES ZU TUN HABEN!

Daraus folgt:

Wir wissen, wie wir uns zu verhalten haben und wie wir Erkrankte behandeln können.

Nochmal für die in der letzten Reihe:

WIR WISSEN, WIE WIR UNS ZU VERHALTEN HABEN.

Das wussten wir zum Beispiel nicht mal bei der Spanischen Grippe. Damals war die Keimtheorie schon etabliert, aber man kannte Viren noch nicht. Man konnte nur auf Basis des Wissens agieren, das man schon hatte, aber nicht so zielgerichtet, und nicht mit dem Maß an Gewissheit, wie wir es haben.

Nun möchte ich die Frage, was wäre, wenn das Coronavirus im Mittelalter aufgetreten wäre, in Unterfragen herunterbrechen und sie einzeln betrachten.

Erste Frage: Hätte sich das Coronavirus überhaupt verbreiten können?

Nun, da wir SARS-1 erst seit den 2000ern kennen, sind SARS-Coronaviren – anders als Corona-Erkältungsviren – wohl eine ziemlich neue Sache und das ist ja schon ein Hinweis darauf, dass unter den früheren Umständen …

HALT! *bremsen quietschen*

Ist das so?

Möglicherweise nicht.

Nach dem wir nun mit SARS-CoV-2 auf einmal viel mehr wissen, wie eklig Coronaviren werden können, gibt es seit Kürzerem eine Theorie. Die Theorie, dass die sogenannte Russische Grippe vom Ende des 19. Jahrhunderts, möglicherweise gar keine Influenzaepidemie, sondern eine Coronavirus-Epidemie war. Einiges spricht dafür. Das bedeutet, es könnte es auch schon vor Flugverkehr und Massentourismus ein Coronavirus bis nach Europa geschafft haben.

Und ich denke, das kann uns helfen, uns dieser Teilfrage anzunähern.

Gab es Handelsbeziehungen oder Handelsrouten, die die Verbreitung möglich machen?

Selbst wenn wir auch für unser mittelalterliches Virus die Bedingung anlegen, dass es aus Wuhan gekommen sein müsste: es wäre theoretisch denkbar.

Wäre eine Verbreitung per Handelsschiff möglich gewesen, wie bei der Pest?

Auf einem Schiff lebte man eng zusammen. Auch wenn man sich am Tag an der frischen Luft aufhielt, die Situation in den engen Schlafquartieren wäre ideal für die Verbreitung von Aerosolen.

Sagen wir: ein oder zwei präsymptomatische Crewmitglieder bringen das Virus mit aufs Schiff. Aufgrund der idealen Bedingungen für eine Ansteckung unter Deck, würde ich davon ausgehen, dass sich das Virus sehr schnell verbreitet und sehr schnell die Mehrheit der Crew ansteckt.

Auf hoher See ist keine oder kaum ärztliche Versorgung möglich. Die Matrosen dürften nicht selten auch zu einseitig ernährt gewesen sein.

Vermutlich wäre also ein Teil nicht symptomatisch erkrankt, eventuell weil sie den Sechser im Gen-Lotto gewonnen haben oder eine Niete für den zugigsten Schlafplatz gezogen haben. Ein guter Teil dürfte aber Symptome entwickelt haben, da auch die Virenlast bei der Infektion eine Rolle spielt. Und wie gesagt: unter Deck sind die Voraussetzungen ziemlich ideal. Davon wäre ein Teil nur leicht erkrankt, ein Teil hätte sich sterbenselend gefühlt, wäre aber wieder gesund geworden und ein Teil wäre gestorben.

Egal ob Sepsis, Zytokinsturm oder Atemnot, gegen keine dieser Verlaufsformen hätte es wirkungsvolle Gegenmittel gegeben.

Ob Schiffe mit vielen Erkrankten überhaupt noch sinnvoll navigiert werden konnten, wäre eine Frage.

Je weiter die Strecke, oder je länger die Reise aus anderen Gründen, bei Flaute beispielsweise, gedauert hätte, bei Ankunft wäre ein Teil wieder gesund und ein Teil tot gewesen.

Es gab aber auch einige regelmässig gesegelten Routen zwischen großen Häfen, die nur zwischen 2–6 Tage in Anspruch nahmen. Hier hätte eine komplett präsymptomatische Crew munter von Bord gehen können und das Virus wäre schon wieder ein paar hundert Kilometer weiter gewesen.

Karte der mittelalterlichen Segelrouten im Mittelmeer und dem Nordatlantik.
Lampman, Public domain, via Wikimedia Commons

Wäre eine Verbreitung über Handelsrouten möglich gewesen?

Händler, die über Land unterwegs waren, waren das zu Pferde oder auf anderen Reittieren, mit Wagen etc. Man war viel an der frischen Luft. Wenn ein oder zwei infizierte Teil der Handelskarawane gewesen wären … Gelegenheiten zur Infektion hätte es sicherlich dennoch gegeben, im Gespräch, beim Teilen eines Zeltes oder einer Unterkunft.

Aber: es wäre möglicherweise nicht zu einer schnellen Infektion der gesamten Reisegruppe gekommen. Eher wäre einer nach dem anderen krank geworden. Ein paar wären gestorben, die anderen weitergezogen. Vor allem die asymptomatischen Infizierten wären auch nicht gemieden oder zurückgelassen worden.

Auf die Art und Weise hätte eine Gruppe die Krankheit über einen sehr langen Weg mitschleppen und in eine ganz neue Region bringen können.

Mhja. Gabs da nicht was Größeres?

Hey, ja. Doch. Logisch.

Die Goldene Horde hätte Geschenke bringen können.

Karte des Ausdehnungsgebiets von vier asiatischen Mächten im Jahr 1294. Der Einflußbereich der Goldenen Horde reicht bis zum Balkan.
User:Astrokey44, modified by Sting, CC BY-SA 2.5 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5, via Wikimedia Commons

Das Virus hätte mit Timurs Heer aus Asien bis ans Mittelmeer und das Schwarze Meer reisen können.

William Robert Shepherd, Public domain, via Wikimedia Commons

Hätte es die Krankheit z.B. aus dem Osten erst mal bis in den mittleren Osten geschafft, die Kreuzfahrer hätten sie mit heim bringen können. Abhängig davon wer wie reiste und ob es Gelegenheiten gab, dass sich schnell viele Menschen hätten infizieren können, wäre das auffälliger oder unauffälliger abgelaufen. Unterwegs hätte man vielleicht noch so das eine oder andere Städtchen angesteckt.

Karte der ersten vier Kreuzzüge.
Von Internet Archive Book Images – https://www.flickr.com/photos/internetarchivebookimages/14596690557/ Source book page: https://archive.org/stream/outlinesofworlds03swin/outlinesofworlds03swin#page/n283/mode/1up, No restrictions, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=43538969

(Ja, das war zeitlich teils vor der Goldenen Horde und Timur. Ich will damit nur sagen: Ja, dasas Virus hätte über große Strecken mit einer großen Menschengruppe mitreisen können.)

Aber: Das Virus würde sich langsamer ausbreiten. Es würde eben nicht von Urlaubs- und Geschäftsreisenden mitten und fast gleichzeitig in die Großstädte dieser Welt getragen. Es wären auch deutlich weniger Menschen in absoluten Zahlen krank. Weil es viel weniger Menschen gab.

Zweite Teilfrage: Wie hätte sich das Virus entwickelt? Wäre es ‚aufgefallen‘?

In einer anderen Antwort wird behauptet, bei 1% Sterblichkeit wäre es nicht aufgefallen. Soso.

Bei der unbestritten größten Pandemie des 20. Jahrhunderts – der Spanischen Grippe – starben … *trommelwirbel* … um die 2,5% der Bevölkerung weltweit.

Gut, das ist etwas sehr viel weniger als bei der Pest, die teilweise Landstriche entvölkerte und zum Beispiel die Bevölkerung von London um 60%, also mehr als die Hälfte, dezimierte.

Jetzt ist aber die Frage: wie hätte sich das Virus im MIttelalter _wirklich_ verhalten? Habt ihr euch Punkt 7 von oben gemerkt? Gut.

Denn wir haben nichts. Gar nichts. Es ist das Mittelalter. Wir wissen weder was Viren sind, noch wie wir uns gegen sie wehren können, noch wie man virale Krankheiten erfolgreich behandelt und wir haben auch keine Möglichkeit zur Beatmung.

Wer heute beatmet werden müsste erstickt einfach. Keine 3 aus 4 oder 2 aus 4 Chance zu überleben. Nein, Schluß, Aus, Ende.

Aber: es würden auch viel mehr Menschen beatmet werden müssen, weil wir heute eine Hochleistungsmedizin haben, die versucht durch die Gabe von Medikamenten die Ausbreitung der Erkrankung in der Lunge, oder wenn sie dort schon ist, innerhalb der Lunge, zu begrenzen.

D.h. die 20 Personen auf 100 mit Symptomen, die bis vergangenen Dezember im Krankenhaus landeten, würden eventuell auch unter den Bedingungen des Mittelalters im Spital landen. Aber statt 18 kommen eventuell nur 10 wieder raus.

Zu hoch gegriffen?

Covid-19 außerhalb des industrialisierten Westens

Schauen wir uns doch mal an, wie es mit Covid-19 anderswo auf der Erde aussieht, shall we?

Screenshot Our World in Data, Case Fatality Rate Peru und Deutschland im Vergleich.

Ooops. Huch? Was ist denn da passiert? Geht da die Rate auf einmal über 14 % hoch? ¯\_(ツ)_/¯

Es ist also fast so, als wäre die Gefährlichkeit keine feste Größe, sondern hinge von äußeren Umständen ab, wie Gesundheitsstatus, medizinische Versorgung und schlicht auch der politischen Stabilität eines Landes.

Bei Peru vermutet man, dass abgesehen von der schlechten medizinischen Versorgung in den Anden die Höhenlage eine Rolle spielen könnte. Also können wir die Situation dort nicht wirklich auf unsere Frage übertragen. Aber ich finde, die Zahlen in Peru zeigen, dass mein Wert: 10 von 100 Infizierten sterben unter den Bedingungen des Mittelalters so unrealistisch nicht ist. Ich behalte die Zahl mal bei, weil ich sie für durchaus begründbar halte und es eine schöne runde Zahl zum Rechnen ist.

Jetzt bleibt noch zu fragen: Naja, wie viele hätten sich denn infiziert. Und das hängt nun mal von der Infektiosität des Virus ab. Auch die ist von äußeren Einflüssen abhängig (wie dem Wetter aka Saisonalität), dem Gesundheitsstatus der Bevölkerung und auch dem Alter. Aber nicht ganz so stark, wie bei der Frage, wie viele Infizierte sterben.

Hier die Infektiosität des Virus im Vergleich mit anderen Erkrankungen. Die Zahl ist vom Anfang des Jahres, gilt also nur für den SARS-CoV-2 Wildtyp und und die Alpha-Variante.


Ich habe nämlich auch absichtlich die ganze Zeit mit Daten aus dem Dezember gerechnet, denn

a) Mittelalter, keine Impfungen

b) die langsamere geografische Ausbreitung bedeutet auch weniger Infizierte zu einer beliebigen Zeit X und damit weniger Mutationen. Das hätten wir im Mittelalter aber auch haben können, wenn … sagen wir … das Virus in der Goldenen Horde eine fette Party feiert.

Folglich: Möglicherweise kein Delta.


Wie infektiös war der Wildtyp?

Ein Überblick über die Case Fatality Rate von SARS-CoV-2 im Vergleich mit anderen Infektionskrankheiten. Covid-19 ist infektiöser als die Schweinegrippe, das Rotavirus und die saisonale Grippe, aber etwa genauso infektiös und tödlich wie die Spanische Grippe. 
Infektiöser sind das Norovirus, Masern, Polio, Pocken und Windpocken. 
Tödlicher, aber genauso infektiös ist die Vogelgrippe, Ebola, Tuberkulose und SARS. Tödlicher, aber weniger infektiös ist MERS.
Die Case Fatality Rate und Infektiosität (RNaught) von SARS-CoV-2 (Wildtyp und Alpha) im Vergleich mit anderen Infektionskrankheiten. Information is Beautiful. Stand Januar 2021.

Unter Delta wird sich jeder früher oder später mit dem Virus infizieren. Delta liegt auf der Skala noch mal ein bisschen weiter nacht rechts. So bei 6–8.

Beim Wildtyp war das noch nicht so. Da konnte man der Infektion durchaus entgehen, wenn man Glück hatte. Wie bei der Spanischen Grippe zum Beispiel. Da infizierte sich rund 1/3 der Weltbevölkerung. (Damals verbreitete sich das Virus per Schiff, nicht per Flugzeug.)

Wie man sieht, hat schon der Wildtyp mindestens so viel Biss wie die Spanische Grippe, eventuell aber auch ein bisschen mehr. Das Virus mag besonders: Enge Wohnquartiere, enge Straßen, viele Menschen an einem Ort, schlechte Belüftung, singende oder laut redende Menschen, nicht gerade super-hygienische Verhältnisse.

Wo findet man den Menschen des Mittelalters regelmässig? Abgesehen von engen, schlecht beheizbaren und deswegen schlecht gelüfteten Wohnquartieren?

Richtig: In der Kirche.

Es sang üblicherweise noch nicht die ganze Gemeinde. Dennoch dürften die Kirchgänge dem Virus einen guten Brutkasten geboten haben.

Ich denke, mal so über den Daumen zu peilen, dass sich Minimum ein Drittel der damaligen Bevölkerung angesteckt hätte, wir aber eher so in Richtung die Hälfte, denken sollten, macht Sinn.

Bleiben wir bei der Hälfte weil es lässt sich erneut gut damit rechnen. Dann würden aus 10 Toten pro 100 Infizierten plötzlich 5 Tote auf 100 Personen, also die Bevölkerung hätte sich um 5% reduzieren können.

Das ist halt schon das 5-fache der 1%, die in einer der Antworten kolportiert wurde und ja, das merkt man. Oder auch: jede 20. Person stirbt. D.h. jede zweite Familie hat einen Toten, mindestens. Und nein, es hätte eben nicht nur die Älteren getroffen. Dieses Glück, wenn wir es so nennen wollen, haben wir nur in einer modernen Industrienation.

Die Case Fatality Rate im Vergleich mit dem Durchschnittsalter der Bevölkerung. Quelle: Our World in Data.

Erneut, wenn wir uns Peru ansehen, dann sieht auch die Altersstruktur bereits in unserem Jahrhundert ganz anders aus.

Hätte eine Krankheit wie Covid-19 dann noch eine besondere Krisenzeit erwischt, wie die Zeit der Missernten und Hungersnöte, hätte das ein Scheiße-auf-Ventilator-Szenario werden können.

(Als die Pest 1348–1352 wütete, lag die Phase der Abkühlung schon Jahrzehnte zurück. Nach Erzählungen eines mir bekannten Mittelalterarchäologen, grub man aus dieser Zeit Reste eines selbst nach unseren Maßstäben opulenten Festessens aus. Es herrschte kein Hunger. Es hätte also noch schlimmer kommen können.)

Auch kirchliche Feiertage und die damit zusammenhängenden Feierlichkeiten und Gelage hatten einen weit höheren Stellenwert. Und wer sich ansehen will, wie sich Feierlichkeiten in einer Epidemie auswirken können, der suche sich etwas Material über Philadelphia in der Spanischen Grippe heraus.

Denn das eigentlich gruselige an hochinfektiösen Erkrankungen wie Covid-19 ist, wenn viele Menschen gleichzeitig krank werden, weil sie sich zum gleichen Zeitpunkt, wie beispielsweise in einer großen Prozession, angesteckt haben. Anders als beispielsweise die sporadische Weitergabe in einer Reisegruppe eine Krankheit über weite Wege unter der Oberfläche am Köcheln halten kann, sind Massenveranstaltungen wie Spiritus auf die Glut.

Aber auf einmal ist in einer mittelalterlichen Stadt ein signifikanter Teil der Bevölkerung krank und keiner weiß woher es kam und was es ist. Oder ob man es selbst überleben wird.

Damit kommen wir zu: Hätten die das nicht einfach weggeatmet, die sind doch Sterben gewohnt?

Nein. Die hätten das nicht einfach weggeatmet.

Jede Pan- und Epidemie dieser Welt war für jene, die in ihr lebten, gruselig und beängstigend. Das schlug sich auch in den schriftlichen Dokumenten und teils der Kunst der jeweiligen Episode nieder. Die Pest war zwar eine besonders tödliche Erkrankung, aber auch weniger tödliche Erkrankungen hinterlassen ein Gefühl der Ohnmacht, wenn es viele Fälle zur gleichen Zeit gibt. Dann passiert auch, was zu jeder Zeit passieren kann: das zivile Leben, Handel etc. kommt zum Erliegen.

Jede Epidemie kann eine Kaskade von Ereignissen auslösen. Viele gleichzeitige Erkrankungen sind damals wie heute ein Problem. Damals, durch wegfallende Arbeitskraft, ein destabilisierenderes Problem als heute. Besonders was die unmittelbare Versorgung der Bevölkerung angeht. Kein Supermarkt, um mit einem Einkaufswagen voller Nudeln und Tomatensauce wieder rauszukommen.

Nur weil der Tod, vor allem durch Infektionskrankheiten, noch näher war als heute, waren die Menschen nicht komplett abgestumpft und gefühllos. Sie trauerten, sie vermissten und einzelne Familienmitglieder, die mit anpacken konnten, hatten auch noch einen ganz anderen Stellenwert als heute, in einer Welt mit sozialem Netz.

Dafür gibt es hinreichend Belege in Primärquellen.

tl;dr:

  • Ja, es wäre durchaus möglich gewesen, dass sich die Krankheit auch im Mittelalter von Asien bzw. Wuhan bis nach Europa hätte ausbreiten können.
  • in einer mittelalterlichen Gesellschaft unter den damaligen hygienischen und sonstigen Gegebenheiten, hätte das Virus tödlicher sein können, als wir es erleben.
  • es ist sehr unwahrscheinlich, dass eine zusätzliche Epidemie, wenn auch nicht so tödlich wie die Pest, unbemerkt geblieben wäre
  • hört auf, Menschen des Mittelalters für dümmer, ignoranter oder gefühlloser zu halten, als euch selbst.

Mein Schlußwort:

Angesichts vieler Aussagen, wie „nur Alte“, „nur Vorerkrankte“ oder „betrifft nur 1%“, die ich seit Beginn der Pandemie hören musste, habe ich den Eindruck, dass es eher der moderne Mensch ist, für den Krankheiten weit weg gerückt sind, der nun völlig abgestumpftes Verhalten und einen eklatanten Empathiemangel zeigt. Der Infektionskrankheiten als vermeindlich persönliches Problem von sich wegschieben will, statt sie als kollektive Aufgabe zu begreifen.

Da waren die Menschen des Mittelalters definitiv weiter, als wir.

Nachtrag 07.11.2021

Ich bin gestern nochmal neugierig geworden und hab recherchiert, welchen R0 Wert die Pest denn hatte. Es ist ein R0 von 3. ¯\_(ツ)_/¯

Der Wildtyp dürfte sich von der Infektiosität also tatsächlich sehr ähnlich der Pest verhalten haben, ist nur zum Glück nicht annähernd so letal.

Delta hätte dann wirklich so das Shit-hits-the-Fan-Szenario des Mittelalters werden können, da mit höherer Infektiosität auch die Sterblichkeit derer steigt, die nicht an der Krankheit selbst sterben, sondern an den Umständen einer zusammengebrochenen Zivilgesellschaft.

Quellen

BRADEN, Christopher, Scott DOWELL, Daniel JERNIGAN und James HUGHES, 2013. Progress in Global Surveillance and Response Capacity 10 Years after Severe Acute Respiratory Syndrome. Emerging infectious diseases. 1 Juni 2013. Bd. 19. DOI 10/gbdkn2
BRÜSSOW, Harald und Lutz BRÜSSOW, 2021. Clinical evidence that the pandemic from 1889 to 1891 commonly called the Russian flu might have been an earlier coronavirus pandemic. Microbial Biotechnology [online]. 2021. Bd. 14, Nr. 5, S. 1860–1870. [Zugriff am: 1 Oktober 2021]. DOI 10/gmmt4x. Verfügbar unter: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/1751-7915.13889
HENEGHAN, Carl J., Elizabeth A. SPENCER, Jon BRASSEY, Annette PLÜDDEMANN, Igho J. ONAKPOYA, David H. EVANS, John M. CONLY und Tom JEFFERSON, 2021. SARS-CoV-2 and the role of airborne transmission: a systematic review [online]. [Zugriff am: 9 November 2021]. Verfügbar unter: https://f1000research.com/articles/10-232

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Mela lebt, zusammen mit ihrem Mann, in Karlsruhe und schreibt über allerlei und unter anderem gerne über Geschichte und Geschichten. Sie besitzt einen BA (hons) Humanities with Creative Writing and History von der Open University in Milton Keynes, UK.


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