Krankheit und Krieg - Eine akademische Rede

Gab es bei der spanischen Grippe einen Lockdown, ähnlich zu dem in der Corona-Pandemie? — Quora Antwort

Eine weitere Antwort, die ich auf der Frage-und-Antwortplattform Quora beigesteuert habe. Diesmal zur Spanischen Grippe und was wir aus der Geschichte über Sinn und Unsinn von nichtpharmazeutischen Maßnahmen — speziell von Kontaktbeschränkungen — wissen.

Gab es während der spanischen Grippe einen Lockdown?

Es kommt darauf an, von welchem Land wir reden.

Deutschland

Mir ist kein Lockdown aus Deutschland bekannt und ich halte ihn momentan auch für unwahrscheinlich, aber ich habe das Thema noch nicht durchrecherchiert.

Warum ich es für unwahrscheinlich halte: in Deutschland fand zum Höhepunkt der zweiten Welle der spanischen Grippe die Oktoberrevolution statt.

Was es gab, war ein Aufruf des neu installierten Arbeiter- und Soldatenrats zu Hause zu bleiben. Das galt wohl mehr zur Wiederherstellung der allgemeinen Ordnung bzw. zur Vermeidung von Krawllen oder anderen Entwicklungen, am Rande einer Revolution (wie Plünderungen), war aber nicht als nichtpharmazeutische Maßnahme gedacht.

(Ich recherchiere aktuell in den Zeitungen dieser Zeit, die zensiert wurde und daher nur einen sehr kleinen Einblick in die tatsächliche Situation bieten. Mir fehlt noch das Gegengewicht aus offiziellen Regierungs- und Polizei-Berichten und Sekundärquellen. Daher bitte diese Einseitigkeit bedenken.)

Ein paar Beispiele, wie über die Grippe berichtet wurde und welche Maßnahmen (nicht) ergriffen wurden

1. Welle: Es wurde gefeiert …

Die Festordnung zur Feier des Geburtstags des Großherzogs sieht folgendes vor:
Sonntag vormittag Festgottesdienste in den Kirchen der Stadt, Sonntag nachmittag Wettkämpfe der Rasensportvereine für Karlsruhe und Umgebung auf dem Sportplatze des Karlsruher Fußballvereins, Montag Abend Zapfenstreich der Garnision auf dem Schloßplatz, Dienstag Festliche Beflagung der Stadt, Festgeläute und (mittags) Paroleausgabe der Garnision sowie Musikaufführungen auf dem Schloßplatz, Nachmittagskonzert im Stadtgarten und abendliches Festkonzert im Großherzoglichen Hoftheater.

Karlsruher Zeitung, 7.7.1918

… Sport getrieben …

Der Krieg habe auf den Bestand der Vereine verheerend gewirkt und die sog. "spanische Krankheit" beeinträchtigte auch noch die Teilnahme vieler Turner an der heutigen Veranstaltung. Mit einem warmen Appell an die Anwesenden, jederzeit für die Arbeiterturnsache zu wirken, denn die große Waffe der Arbeiterkinder stehe uns noch fern, schloß Turngen. Höll seine sehr beifällig aufgenommenen Ausführungen. Inzwischen kam die übliche Sirenenstörung, der Festplatz leerte sich, aber das vorgesehene Programm hatte auch vollständig seine Erledigung gefunden.
Volksfreund 11.7.1918 – Badische Landesbibliothek

Der Krieg habe auf den Bestand der Vereine verheerend gewirkt und die sog. „spanische Krankheit“ beeinträchtigte auch noch die Teilnahme vieler Turner an der heutigen Veranstaltung. Mit einem warmen Appell an die Anwesenden, jederzeit für die Arbeiterturnsache zu wirken, denn die große Waffe der Arbeiterkinder stehe uns noch fern, schloß Turngen. Höll seine sehr beifällig aufgenommenen Ausführungen. Inzwischen kam die übliche Sirenenstörung, der Festplatz leerte sich, aber das vorgesehene Programm hatte auch vollständig seine Erledigung gefunden.

Volksfreund 11.7.1918

2. Welle: … und sich versammelt

Volks-Versammlung
Die sozialdemokratische Partei veranstaltet morgen Samstag, abends 8 Uhr im Saale des „Friedrichshof“ eine öffentliche Volksversammlung mit dem Thema: Die Revolution und die badische National-Versammlung.
Als Redner sind Justizminister Marum und Stadtrat Dr. Diez vorgesehen.

Volksfreund 22.11.1918

Auch wenn ein kompletter Zusammenbruch des öffentlichen Lebens wohl ausblieb, ist die Grippe nicht unbemerkt an der Bevölkerung vorbei gegangen.

Spuren der Pandemie

1. Welle

Ein Sänger des Karlsruher Sommertheaters muss mehrere Rollen übernehmen, um die ausgefallenen Ensemblemitglieder zu ersetzen.

Um die Aufführung machte sich in erster Linie Herr Kammersänger Bussard verdient, der, in eine der Lücken einspringend, die das Auftreten der Influenza in das Ensemble gerissen hat, den Grafen mit gewohnter Sicherheit und Elegang verkörperte.

Karlsruher Zeitung, 7.7.1918

2. Welle

In Heidelberg ist die Hälfte der Postbelegschaft erkrankt.

Heidelberg, 15. Okt. Die spanische Krankheit ist hier außerordentlich verbreitet. Die Hälfte des Postpersonals ist erkrankt. Im Laufe der Woche sind hier, wie der Presse von zuständiger Stelle mitgeteilt wird, etwa 60 Todesfälle zu verzeichnen.

Karlsruher Zeitung 18.10.1918

Auch der Bahnverkehr kann nicht mehr vollständig aufrecht erhalten werden.

* Einschränkungen des Personen- und Schnellzugverkehrs. Zahlreiche Grippeerkrankungen beim gesamten Eisenbahnpersonal erfordern auch in Baden den vorübergehenden Ausfall einer Anzahl Schnell- und Personenzüge, damit der Güter und Lebensmittelverkehr aufrecht erhalten werden kann. Über die Einschränkungen im Zugsverkehr, die am Montag, den 11. November in Kraft treten, wird ein Aushang auf den Stationen angeschlagen werden.

Volksfreund 11.11.1918

Man merkt, hier mussten Lebensmittellieferungen auf Kosten des Personenverkehrs priorisiert werden, um Versorgungsprobleme, zusätzlich zur Grippe, zu verhindern.

Anders als heute, hat die Bahn nicht nur vier Probleme (Frühling, Sommer, Herbst und Winter), sondern sogar noch zwei mehr: Grippe und Revolution.

An die Arbeiter- und Soldatenräte!
Das Volk muss verhungern, wenn die Bahntransporte gestört werden. Das geschieht aber durch jeden Eingriff unzuständiger Stellen in den Bahnbetrieb und die Bahnverwaltung. Gestern sind an verschiedenen Orten des A.-S.-R. solche Eingriffe vorgenommen worden, z:B. in den Betrieben von Rangierbahnhöfen und in den Kassenführungen von Bahnstationen. Das darf nicht wieder vorkommen. Wiederholungen müssen zur Arbeitsverweigerung unserer braven Eisenbahnarbeiter und zum Still stand des Eisenbahnverkehrs führen. 
Berlin, 10. November 1917
Der Reichskanzler: Ebert
Volksfreund 11.11.1918 – Badische Landesbibliothek

An die Arbeiter- und Soldatenräte!
Das Volk muss verhungern, wenn die Bahntransporte gestört werden. Das geschieht aber durch jeden Eingriff unzuständiger Stellen in den Bahnbetrieb und die Bahnverwaltung. Gestern sind an verschiedenen Orten des A.-S.-R. solche Eingriffe vorgenommen worden, z:B. in den Betrieben von Rangierbahnhöfen und in den Kassenführungen von Bahnstationen. Das darf nicht wieder vorkommen. Wiederholungen müssen zur Arbeitsverweigerung unserer braven Eisenbahnarbeiter und zum Still stand des Eisenbahnverkehrs führen.
Berlin, 10. November 1917
Der Reichskanzler: Ebert

Volksfreund 11.11.1918

Sollten da etwa Revolutionäre die Hände in den Kassen der Bahn gehabt haben? Achwas, das ist sicher noch nie vorgekommen.

In Renstadt muss das Erscheinen der Zeitung temporär eingestellt werden, weil die Redaktion erkrankt ist.

* Renstadt i. W., 9. Okt. Die spanische Krankheit ist hier stark verbreitet. Der hier erscheinende „Hochwächter“ teilt seinen Lesern mit, dass infolge Erkrankung des Personals an der Grippe vom Montag ab bis auf weiteres keine Zeitung erscheinen kann.

Volksfreund 10.10.1918

Andere nichtpharmazeutische Maßnahmen

Dass es keine Entsprechung zu einem ‚Lockdown‘ gab, bedeutet aber wiederum nicht, dass es gar keine nichtpharmazeutischen Maßnahmen gab. Im Gegenteil.

Schulschließugen in fast allen größeren Städten. In Straßburg wurden Theater, Kinos und Konzertsäle geschlossen. In Mannheim wurden zusätzlich alle Schulen und Kindergärten geschlossen, Versammlungen und Vorträge wurden untersagt.

Okay, wie ist Deutschland denn so durch die Pandemie gekommen? Erstaunlich gut. Besser als der Nachbar Frankreich, jedenfalls. In Frankreich überstiegen die Opfer der Grippe die Zahl der Opfer des ersten Weltkriegs. In Deutschland blieb man mit – einer neueren Studie zufolge – rund 260.000 Grippetoten deutlich unter den Zahlen der im Krieg Gefallenen . Auch England kam relativ gut durch die Spanische Grippe.

Das Warum kann ich nicht erklären, nur die Tatsache berichten.

Weitere Eckdaten zur Spanischen Grippe in Deutschland und dem Rest der Welt, findet ihr in diesem Artikel:

Andere Länder

USA

Anders sieht es allerdings aus, wenn wir in andere Länder schauen, (deren Regierungen zu dem Zeitpunkt auch etwas stabiler waren) wie zum Beispiel in die USA. Dort gab es Lockdowns und die Daten, die wir aus der Zeit haben, waren bisher unsere besten Anhaltspunkte, was nichtpharmazeutische Maßnahmen innerhalb einer Pandemie leisten können .

Aber auch, wann man die Maßnahmen installieren muss, damit sie ihre Wirkung entfalten (früh), wie lange man sie aufrecht erhalten konnte, bis der Druck u.a. durch Wirtschaftslobbies zu stark wurde (sechs Wochen) und welche Folgen es hat, wenn man dem Druck nachgibt (eine zweite Welle) .

Gerade in den USA konnte man eine gute Übersicht gewinnen, weil unterschiedliche Städte sehr unterschiedlich auf die Pandemie reagierten. Während St. Louis sehr früh reagierte, reagierte Philadelphia sehr spät.

St. Louis führte einen Lockdown ein, noch bevor die Opferzahlen stark angestiegen waren, in Philadelphia hielt man erst mal noch eine große Parade ab und wartete. So lange, bis die Krematorien nicht mehr damit nachkamen, die Leichen zu verbrennen.

Was man dann in Philadelphia beobachtete, war, dass der Lockdown kaum noch einen Effekt auf das Infektionsgeschehen hatte. Es waren inzwischen so viele Menschen infiziert, dass sich auch durch stark reduzierte Kontakte das Virus weiter verbreiten konnte. Bzw. die Menschen, die dann die Kliniken und Friedhöfe überlasteten, waren bereits infiziert, bis der Lockdown erklärt wurde.

Auf Grund dieses schwachen Effekts, hielt sich in der US-Wissenschaft hartnäckig die Ansicht, dass Lockdowns nichts brächten.
Die Ansicht änderte sich erst, als dann in den 2000er Jahren ein paar Wissenschaftler und Berater des damaligen US-Präsidenten George W. Bush das Thema nochmal neu aufrollten und konsequent die Maßnahmen, deren Geschwindigkeit und die Opferzahlen der einzelnen Städte miteinander verglichen .

Brasilien

Keinen offiziellen Lockdown gab es in Rio. Dort konnte man dafür einen andere Effekt beobachten: den unkontrollierten Stillstand des zivilen Lebens.

Frühere Gesundheitsmaßnahmen – die in Wirklichkeit auch so ein bisschen (sehr) von Rassismus getrieben waren – sorgten für ein großes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber Impfungen und anderen Einschränkungen der persönlichen Freiheit.

Als die Spanische Grippe schließlich auch Rio erreichte, glaubten viele nicht daran, dass es sich um die Influenza handelte.

Eine Zeitung munkelte, dass die Regierung die Berichte über die Influenza übertreiben würde, um ihnen die Bürgerrechte zu nehmen.

Es sei in Wirklichkeit aber nur ein „Mörder alter Menschen“ und kein Problem für die junge Bevölkerung.

(Klingt das für irgendjemanden bekannt? Mich deucht, als hätte ich das schon mal gehört. Wenn ich nur wüsste, wo …)

Das war am 12. Oktober.

Ende Oktober stapelten sich die Leichen in der Stadt, die nicht mehr abgeholt wurden.

Es gab noch Fußballspiele, aber niemand ging hin. Die Straßen waren leergefegt. Die Friedhofsglocke läutete ununterbrochen. Das öffentliche Leben kam ohne jeden Lockdown zum Erliegen und die Opferzahlen waren erschreckend .

Fazit

Durch die Spanische Grippe wissen wir, dass die Reduzierung der Kontakte ein wirksames Mittel ist, um die Ausbreitung von Infektionskrankheiten zu verlangsamen und somit eine Überlastung der Gesundheitssysteme und hohe Opferzahlen zu verhindern. Wir wissen auch, dass die Kontaktreduzierung aber nur dann wirklich gut wirkt, wenn man sie früh installiert und in der Folge auch die Inzidenzen konsequent niedrig hält.

Hebt man diese Maßnahmen zu früh auf oder führt sie zu inkonsequent durch, kann und wird sich eine zweite Welle aufschaukeln. (Oder eine Vierte.)

Es kann Ausreißer geben – wie Deutschland damals wohl einer war – aber darauf zu setzen oder zu hoffen, zeigt am Beispiel Rio, dass es keine sehr gute oder überlegte Strategie ist.

Leider haben wir in der aktuellen Pandemie (abgesehen von der ersten Reaktion im März 2020) versäumt, uns von diesen Lehren der Vergangenheit leiten zu lassen. Obwohl sie durch moderne Modellierung bestätigt werden .

Quellen


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Mela lebt, zusammen mit ihrem Mann, in Karlsruhe und schreibt über allerlei und unter anderem gerne über Geschichte und Geschichten. Sie besitzt einen BA (hons) Humanities with Creative Writing and History von der Open University in Milton Keynes, UK.


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